- Die Stärke eines Volkes ist sein Gewissen – (John Dryden)
Einführung – Ein Gedankenspiel
Bitte versuchen Sie sich vorzustellen, kein Gewissen zu haben. Sie 
haben nicht die geringste Spur eines Gewissens und keine Gefühle für 
Schuld oder Reue – ganz egal was sie anstellen, plagen sie keine 
lästigen Skrupel über das Wohlbefinden von Fremden, Freunden, oder gar 
Verwandten. Stellen sie sich vor, es gäbe kein leidiges Hadern mit ihrem
 Schamgefühl, kein einziges mal in Ihrem ganzen Leben, unabhängig davon,
 ob Sie sich egoistisch, faul, rücksichtslos oder unmoralisch verhalten.
 Und stellen Sie sich weiterhin vor, dass der Begriff „Verantwortung“ 
Ihnen fremd wäre, außer vielleicht als Bürde, die andere Menschen 
offenbar wie gutmütige Trottel blind auf sich nehmen. Und nun erweitern 
Sie dieses seltsame Gedankenspiel um die Fähigkeit, Ihre so überaus 
sonderbar psychische Disposition vor anderen Menschen zu verbergen. Da 
jedermann wie selbstverständlich annimmt, dass das Gewissen eine 
universelle menschliche Qualität ist, fällt es Ihnen leicht, zu 
verheimlichen, dass sie kein Gewissen haben. Kein Schuld- oder 
Schamgefühl hemmt die Erfüllung Ihrer Wünsche, und sie werden von 
niemandem wegen ihrer Gefühlskälte zur Rede gestellt. Die eisige 
Flüssigkeit, die in Ihren Adern fließt, ist so fremdartig, so abseits 
normaler menschlicher Erfahrungen, das kaum einem Menschrn der Verdacht 
kommt, dass mit Ihnen etwas nicht stimmen könnte.
Mit anderen Worten: Sie sind völlig frei von internen Kontrollen, 
und Ihre ungehemmte Freiheit, ohne Skrupel alles das zu tun, was sie 
wollen, ist bequemer Weise für den Rest der Welt nicht erkennbar. Sie 
können tun, was sie wollen – und doch wird Ihr geheimnisvoller Vorteil 
vor den meisten Ihrer Mitmenschen, die durch ein Gewissen gelenkt 
werden, sehr wahrscheinlich verborgen bleiben.
Nie bedrückt Sie das panische Gefühl eines schlechten Gewissens oder
 lässt Sie mitten in der Nacht hochschrecken. Trotz Ihres Müßigganges 
sind Ihnen Gefühle von Verantwortungslosigkeit, Nachlässigkeit oder 
Peinlichkeit völlig fremd, wenn Sie auch gelegentlich um des schönen 
Scheins willen solche Gefühle vortäuschen. Wenn sie zum Beispiel ein 
guter Beobachter von Menschen und ihren Reaktionen sind, könnten Sie ein
 bekümmertes Gesicht aufsetzten und behaupten, Sie würden sich für Ihren
 Lebenswandel schämen und davon sprechen, wie schlecht Sie sich fühlen.
Ich vertraue darauf, dass die Vorstellung, ein solcher Mensch zu 
sein, Ihnen verrückt vorkommt, denn solche Menschen sind verrückt – und 
zwar gefährlich verrückt. Verrückt, aber real – es gibt sogar eine 
Bezeichnung für sie. Viele Psychologen bezeichnen das partielle oder 
völlige fehlen eines Gewissens als „antisoziale Persönlichkeitsstörung“.
 Dabei handelt es sich um eine unheilbare Deformation des Charakters, 
von der nach heutigem Wissensstand wahrscheinlich vier Prozent der 
Bevölkerung betroffen sind. Für das fehlen eines Gewissens gibt es auch 
andere Bezeichnungen; am häufigsten wir „Soziopathie“ verwendet oder der
 etwas geläufigere Begriff Psychopathie. Das Fehlen von Schuldgefühlen 
war die erste der Psychiatrie bekannte Persönlichkeitsstörung; im Laufe 
des vergangenen Jahrhunderts wurde sie auch (manie sans delire), 
psychopathische Minderwertigkeit („psychopathic inferiority“) und 
moralischer Schwachsinn („morl insanity“ oder „moral imbecility“) 
bezeichnet.
Nach der aktuellen „Diagnosebibel“ der Psychatrie, dem Diagnostic 
and Statistical Manual of Mental Disorders IV der „American Psychiatric 
Association“ (APA), sollte die klinische Diagnose einer „antisozialen 
Persönlichkeitsstörung“ in Betracht gezogen werden, wenn eine Person 
mindestens drei der der folgenden sieben Eigenschaften aufweist: (1) 
abweichendes Sozialverhalten, (2) hinterlistiges, manipulatives 
Verhalten, (3) Impulsivität, mangelnde Planungslosigkeit; (4) 
Reizbarkeit, Aggressivität; (5) rücksichtslose Gefährdung der Sicherheit
 der eigenen Person oder anderer Menschen; (6) fortwährende 
Verantwortungslosigkeit; (7) fehlende Reue nach Verletzungen, 
Misshandlungen oder Bestehlen einer anderen Person. Das Auftreten einer 
Beliebigen Kombination von mindestens drei dieser „Symptome“ reichen 
aus, um bei vielen Psychiatern den Verdacht auf die Störung auszulösen.
Viele andere Forscher und Kliniker, die meinen, das die Definition 
der APA eher Straffälligkeit beschreibt als echte „Psychopathie“ oder 
„Soziopathie“, verweisen auf andere belegte Eigenschaften von 
Soziopathen. Eine solche Eigenschaft, die häufiger beobachtet wird, ist 
ein glatter, oberflächlicher Charme, der es echten Soziopathen 
erleichtert, Menschen zu verführen, im übertragenen oder wörtlichen 
Sinne – eine Art Ausstrahlung, ein Charisma. Das sie zunächst reizvoller
 oder interessanter erscheinen lässt als die anderen Menschen in ihrem 
Umfeld. Sie sind spontaner, einnehmender, vielschichtiger oder 
unterhaltsamer als andere. Bisher geht dieses „soziopathische Charisma“ 
einher mit einem übertriebenen Selbstwertgefühl, das zunächst 
überzeugend wirkt, sich aber häufig bei genauerem Hinsehen als seltsam 
oder sogar lächerlich erweist. (Eines Tages wird man merken, welch ein 
besonderer Mensch ich bin.)
Besonders auffällig ist das flache Gefühlsleben von Soziopathen, der
 hohle, flüchtige Charakter von Gefühlen der Zuneigung, die sie zur 
schau stellen und eine frappierende Gefühlskälte. Ihnen fehlt jede Spur 
von Mitgefühl (Empathy) und ein echtes Interesse, Gefühlsbindungen mit 
einer anderen Person einzugehen. Nachdem die charmante Oberfläche 
abgenutzt ist, sind die Ehen lieblos, einseitig und fast immer von 
kurzer Dauer. Sofern ein Ehepartner überhaupt einen Wert für den 
Soziopathen hat, sieht er ihn als seinen Besitz an, ob dessen Verlust er
 vielleicht Ärger empfindet, aber nie Traurigkeit oder gar 
Verantwortlichkeit.
Für etwa 96 Prozent von uns ist das Gewissen so selbstverständlich, 
dass wir kaum je darüber nachdenken. Meist funktioniert es wie ein 
Reflex. Falls die Versuchung nicht gerade unwiderstehlich ist (was im 
Alltag zum Glück nur selten vorkommt), reflektieren wir keineswegs jede 
einzelne moralische Entscheidung, die sich uns stellt.Wir fragen uns 
nicht ernsthaft, „Soll ich meinem Sprössling heute das Geld fürs 
Schulessen mit geben oder nicht?“ „Soll ich meinem Kollegen heute die 
Aktentasche klauen oder nicht?“ „Soll ich heute meinen Ehepartner 
verlassen oder nicht?“
Das Gewissen trifft alle diese Entscheidungen für uns, in aller 
Stille, automatisch und ständig, so das wir uns in unseren kühnsten 
Phantasien ein Leben ohne Gewissen nicht vorstellen könnten. Und so 
können wir natürlich, wenn sich jemand völlig Gewissenlos verhält, auch 
nur Erklärungen finden, die nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein 
könnten: „Sie muss vergessen haben, dem Kind Essensgeld zu geben.“ „Sein
 Kollege muss seine Aktentasche selbst verlegt haben.“ „Seine Frau muss 
unausstehlich gewesen sein.“ Oder wir denken uns Erklärungen aus, die 
das jeweilige unsoziale Verhalten beinahe erklären könnten.
Das Gewissen ist unser allwissender Zuchtmeister; es diktiert die 
Regeln für unser Verhalten und verhängt emotionale Strafen, wenn wir 
diese Regeln brechen. Wir haben nie um ein Gewissen gebeten. Es ist 
einfach da, immer....
Soziopathen werden fast immer als böse oder diabolisch angesehen, 
selbst (oder gerade) von Psychologen, und das Gefühl, dass diese 
Patienten irgendwie moralisch anstößig und beängstigend sind, schlägt 
sich lebhaft in der Literatur nieder. 
Robert Hare, Professor der Psychologie an der der Universität von 
Britísh Columbia in Kanada...“Jeder Mensch, einschließlich Experten, 
kann von ihnen vereinnahmt, manipuliert, betrogen und verwirrt zurück 
gelassen werden. Ein geschickter Psychopath kann ein Konzert auf der 
Gefühlsklaviatur jedes Menschen spielen.....
Man könnte sich leicht auf den Standpunkt stellen, dass die 
Bezeichnung „Soziopathie“ und „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ 
falsch gewählt sind und eine variable Ansammlung von Ideen reflektieren,
 und dass das Fehlen eines Gewissens als psychiatrische Kategorie 
ohnehin nicht sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden,
 dass alle anderen psychiatrischen Befunde (einschließlich des 
Narzissmus) mit einem gewissen Ausmaß an subjektiv empfundenem Leiden oder
 Unbehagen des Patienten einhergeht. Soziopathie ist somit die einzige 
„Störung“, die den Betroffenen nicht stört – sie verursacht keine 
subjektiven Beschwerden.
(Quelle: „Der Soziopath von Nebenan“
Martha Stout, hat ihre Ausbildung am renommierten psychiatrischen 
McLean-Krankenhaus absolviert. Sie ist praktizierende Psychologin und 
klinische Dozentin an der psychiatrischen Abteilung der Harvard Medical 
School).
 
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