Samstag, 12. Januar 2013

- Die Stärke eines Volkes ist sein Gewissen – (John Dryden)

Einführung – Ein Gedankenspiel

Bitte versuchen Sie sich vorzustellen, kein Gewissen zu haben. Sie haben nicht die geringste Spur eines Gewissens und keine Gefühle für Schuld oder Reue – ganz egal was sie anstellen, plagen sie keine lästigen Skrupel über das Wohlbefinden von Fremden, Freunden, oder gar Verwandten. Stellen sie sich vor, es gäbe kein leidiges Hadern mit ihrem Schamgefühl, kein einziges mal in Ihrem ganzen Leben, unabhängig davon, ob Sie sich egoistisch, faul, rücksichtslos oder unmoralisch verhalten. Und stellen Sie sich weiterhin vor, dass der Begriff „Verantwortung“ Ihnen fremd wäre, außer vielleicht als Bürde, die andere Menschen offenbar wie gutmütige Trottel blind auf sich nehmen. Und nun erweitern Sie dieses seltsame Gedankenspiel um die Fähigkeit, Ihre so überaus sonderbar psychische Disposition vor anderen Menschen zu verbergen. Da jedermann wie selbstverständlich annimmt, dass das Gewissen eine universelle menschliche Qualität ist, fällt es Ihnen leicht, zu verheimlichen, dass sie kein Gewissen haben. Kein Schuld- oder Schamgefühl hemmt die Erfüllung Ihrer Wünsche, und sie werden von niemandem wegen ihrer Gefühlskälte zur Rede gestellt. Die eisige Flüssigkeit, die in Ihren Adern fließt, ist so fremdartig, so abseits normaler menschlicher Erfahrungen, das kaum einem Menschrn der Verdacht kommt, dass mit Ihnen etwas nicht stimmen könnte.
Mit anderen Worten: Sie sind völlig frei von internen Kontrollen, und Ihre ungehemmte Freiheit, ohne Skrupel alles das zu tun, was sie wollen, ist bequemer Weise für den Rest der Welt nicht erkennbar. Sie können tun, was sie wollen – und doch wird Ihr geheimnisvoller Vorteil vor den meisten Ihrer Mitmenschen, die durch ein Gewissen gelenkt werden, sehr wahrscheinlich verborgen bleiben.


Nie bedrückt Sie das panische Gefühl eines schlechten Gewissens oder lässt Sie mitten in der Nacht hochschrecken. Trotz Ihres Müßigganges sind Ihnen Gefühle von Verantwortungslosigkeit, Nachlässigkeit oder Peinlichkeit völlig fremd, wenn Sie auch gelegentlich um des schönen Scheins willen solche Gefühle vortäuschen. Wenn sie zum Beispiel ein guter Beobachter von Menschen und ihren Reaktionen sind, könnten Sie ein bekümmertes Gesicht aufsetzten und behaupten, Sie würden sich für Ihren Lebenswandel schämen und davon sprechen, wie schlecht Sie sich fühlen.

Ich vertraue darauf, dass die Vorstellung, ein solcher Mensch zu sein, Ihnen verrückt vorkommt, denn solche Menschen sind verrückt – und zwar gefährlich verrückt. Verrückt, aber real – es gibt sogar eine Bezeichnung für sie. Viele Psychologen bezeichnen das partielle oder völlige fehlen eines Gewissens als „antisoziale Persönlichkeitsstörung“. Dabei handelt es sich um eine unheilbare Deformation des Charakters, von der nach heutigem Wissensstand wahrscheinlich vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Für das fehlen eines Gewissens gibt es auch andere Bezeichnungen; am häufigsten wir „Soziopathie“ verwendet oder der etwas geläufigere Begriff Psychopathie. Das Fehlen von Schuldgefühlen war die erste der Psychiatrie bekannte Persönlichkeitsstörung; im Laufe des vergangenen Jahrhunderts wurde sie auch (manie sans delire), psychopathische Minderwertigkeit („psychopathic inferiority“) und moralischer Schwachsinn („morl insanity“ oder „moral imbecility“) bezeichnet.
Nach der aktuellen „Diagnosebibel“ der Psychatrie, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV der „American Psychiatric Association“ (APA), sollte die klinische Diagnose einer „antisozialen Persönlichkeitsstörung“ in Betracht gezogen werden, wenn eine Person mindestens drei der der folgenden sieben Eigenschaften aufweist: (1) abweichendes Sozialverhalten, (2) hinterlistiges, manipulatives Verhalten, (3) Impulsivität, mangelnde Planungslosigkeit; (4) Reizbarkeit, Aggressivität; (5) rücksichtslose Gefährdung der Sicherheit der eigenen Person oder anderer Menschen; (6) fortwährende Verantwortungslosigkeit; (7) fehlende Reue nach Verletzungen, Misshandlungen oder Bestehlen einer anderen Person. Das Auftreten einer Beliebigen Kombination von mindestens drei dieser „Symptome“ reichen aus, um bei vielen Psychiatern den Verdacht auf die Störung auszulösen.
Viele andere Forscher und Kliniker, die meinen, das die Definition der APA eher Straffälligkeit beschreibt als echte „Psychopathie“ oder „Soziopathie“, verweisen auf andere belegte Eigenschaften von Soziopathen. Eine solche Eigenschaft, die häufiger beobachtet wird, ist ein glatter, oberflächlicher Charme, der es echten Soziopathen erleichtert, Menschen zu verführen, im übertragenen oder wörtlichen Sinne – eine Art Ausstrahlung, ein Charisma. Das sie zunächst reizvoller oder interessanter erscheinen lässt als die anderen Menschen in ihrem Umfeld. Sie sind spontaner, einnehmender, vielschichtiger oder unterhaltsamer als andere. Bisher geht dieses „soziopathische Charisma“ einher mit einem übertriebenen Selbstwertgefühl, das zunächst überzeugend wirkt, sich aber häufig bei genauerem Hinsehen als seltsam oder sogar lächerlich erweist. (Eines Tages wird man merken, welch ein besonderer Mensch ich bin.)

Besonders auffällig ist das flache Gefühlsleben von Soziopathen, der hohle, flüchtige Charakter von Gefühlen der Zuneigung, die sie zur schau stellen und eine frappierende Gefühlskälte. Ihnen fehlt jede Spur von Mitgefühl (Empathy) und ein echtes Interesse, Gefühlsbindungen mit einer anderen Person einzugehen. Nachdem die charmante Oberfläche abgenutzt ist, sind die Ehen lieblos, einseitig und fast immer von kurzer Dauer. Sofern ein Ehepartner überhaupt einen Wert für den Soziopathen hat, sieht er ihn als seinen Besitz an, ob dessen Verlust er vielleicht Ärger empfindet, aber nie Traurigkeit oder gar Verantwortlichkeit.


Für etwa 96 Prozent von uns ist das Gewissen so selbstverständlich, dass wir kaum je darüber nachdenken. Meist funktioniert es wie ein Reflex. Falls die Versuchung nicht gerade unwiderstehlich ist (was im Alltag zum Glück nur selten vorkommt), reflektieren wir keineswegs jede einzelne moralische Entscheidung, die sich uns stellt.Wir fragen uns nicht ernsthaft, „Soll ich meinem Sprössling heute das Geld fürs Schulessen mit geben oder nicht?“ „Soll ich meinem Kollegen heute die Aktentasche klauen oder nicht?“ „Soll ich heute meinen Ehepartner verlassen oder nicht?“

Das Gewissen trifft alle diese Entscheidungen für uns, in aller Stille, automatisch und ständig, so das wir uns in unseren kühnsten Phantasien ein Leben ohne Gewissen nicht vorstellen könnten. Und so können wir natürlich, wenn sich jemand völlig Gewissenlos verhält, auch nur Erklärungen finden, die nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnten: „Sie muss vergessen haben, dem Kind Essensgeld zu geben.“ „Sein Kollege muss seine Aktentasche selbst verlegt haben.“ „Seine Frau muss unausstehlich gewesen sein.“ Oder wir denken uns Erklärungen aus, die das jeweilige unsoziale Verhalten beinahe erklären könnten.

Das Gewissen ist unser allwissender Zuchtmeister; es diktiert die Regeln für unser Verhalten und verhängt emotionale Strafen, wenn wir diese Regeln brechen. Wir haben nie um ein Gewissen gebeten. Es ist einfach da, immer....

Soziopathen werden fast immer als böse oder diabolisch angesehen, selbst (oder gerade) von Psychologen, und das Gefühl, dass diese Patienten irgendwie moralisch anstößig und beängstigend sind, schlägt sich lebhaft in der Literatur nieder.

Robert Hare, Professor der Psychologie an der der Universität von Britísh Columbia in Kanada...“Jeder Mensch, einschließlich Experten, kann von ihnen vereinnahmt, manipuliert, betrogen und verwirrt zurück gelassen werden. Ein geschickter Psychopath kann ein Konzert auf der Gefühlsklaviatur jedes Menschen spielen.....

Man könnte sich leicht auf den Standpunkt stellen, dass die Bezeichnung „Soziopathie“ und „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ falsch gewählt sind und eine variable Ansammlung von Ideen reflektieren, und dass das Fehlen eines Gewissens als psychiatrische Kategorie ohnehin nicht sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass alle anderen psychiatrischen Befunde (einschließlich des Narzissmus) mit einem gewissen Ausmaß an subjektiv empfundenem Leiden oder Unbehagen des Patienten einhergeht. Soziopathie ist somit die einzige „Störung“, die den Betroffenen nicht stört – sie verursacht keine subjektiven Beschwerden.



(Quelle: „Der Soziopath von Nebenan“
Martha Stout, hat ihre Ausbildung am renommierten psychiatrischen McLean-Krankenhaus absolviert. Sie ist praktizierende Psychologin und klinische Dozentin an der psychiatrischen Abteilung der Harvard Medical School).

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